Vom Rohstoff bis zum Produkt: Wie Massenbilanzierung Transparenz schafft
Die Massenbilanzierung (englisch: mass balance) ist ein anerkanntes Verfahren zur bilanziellen Erfassung und Zuordnung nachhaltiger Rohstoffe in industriellen Produktionsprozessen. Sie ermöglicht es, erneuerbare oder recycelte Rohstoffe gemeinsam mit fossilen Rohstoffen in bestehenden Anlagen zu verarbeiten, ohne dass eine physische Trennung erforderlich ist. Dabei wird dokumentiert, welcher Anteil nachhaltiger Rohstoffe in den Produktionsprozess eingebracht wird und wie viel davon einem Endprodukt rechnerisch zugeordnet werden darf. Dieses Verfahren wird vor allem in der chemischen Industrie, der Kunststoffherstellung sowie zunehmend im Energiesektor eingesetzt. [1]
Der Ursprung des Massenbilanzierungsansatzes liegt in der Verfahrenstechnik. Dort wurde erkannt, dass eine physische Trennung von Rohstoffen oft nicht praktikabel ist. Stattdessen wird über ein buchhalterisches System nachvollzogen, in welchem Verhältnis nachhaltige und fossile Rohstoffe in den Produktionsprozess eingeflossen sind. So kann ein Unternehmen sicherstellen, dass über den gesamten Zeitraum einer Massenbilanzperiode hinweg nicht mehr als die tatsächlich eingesetzte Menge nachhaltiger Rohstoffe als solche vermarktet wird. [2, 3]
Im Kern beruht die Massenbilanzierung auf einem einfachen Prinzip: Nachhaltige und nicht-nachhaltige Rohstoffe dürfen gemischt werden, solange sie auf buchhalterischer Ebene getrennt erfasst und bilanziert werden. Entscheidend ist, dass die Summe der verkauften nachhaltigen Produkte nie größer ist als die Menge an nachhaltigem Input. Dies wird regelmäßig im Rahmen von Audits überprüft. Dadurch bietet der Massenbilanzansatz eine praktikable Lösung, um nachhaltige oder biobasierte Materialien schrittweise in bestehende Produktionsprozesse zu integrieren, ohne technische Umstellungen vorzunehmen. [1]
Chain of Custody erklärt: Die Rolle der Massenbilanzierung
Die Massenbilanzierung ist eines der Chain-of-Custody-Modelle. Unter dem Begriff Chain of Custody (deutsch: Lieferketten- oder Mengenbilanzsystem) versteht man die Gesamtheit der Verfahren, mit denen die Rückverfolgbarkeit und Nachweisführung nachhaltiger Materialien entlang einer Lieferkette sichergestellt wird. Ziel der Chain-of-Custody-Modelle ist es, die Herkunft und den Anteil nachhaltiger Materialien transparent, überprüfbar und glaubwürdig abzubilden. Die Norm ISO 22095 legt einen generischen Rahmen für die Chain of Custody fest [7].
Je nach Anforderungen der Branche oder des Zertifizierungssystems existieren verschiedene Chain-of-Custody-Modelle, die sich hinsichtlich des Trennungsgrades nachhaltiger Materialien unterscheiden [4,7]:
- Identity Preservation (IP): Hierbei bleibt das nachhaltige Material physisch vollständig getrennt von nicht-nachhaltigem Material. Vom Ursprung bis zum Endprodukt ist die Identität eindeutig nachweisbar. Dieses Modell bietet die höchste Transparenz, ist aber auch am aufwendigsten.
- Segregation (Physische Trennung): Nachhaltige Materialien werden während der Verarbeitung und Lagerung physisch von konventionellen Rohstoffen getrennt, können aber innerhalb derselben Anlage verarbeitet werden. Diese Methode wird häufig in der Lebensmittel- oder Textilbranche angewendet.
- Controlled Blending (Form der Massenbilanzierung): Controlled Blending bedeutet, dass Materialien mit unterschiedlichen Eigenschaften (z. B. konventionell vs. nachhaltig, fossiles vs. biobasiertes Material) kontrolliert physisch gemischt werden, aber die Mengenbilanz genau erfasst und dokumentiert wird.
- Mass Balance (Massenbilanzierung): Die Massenbilanzierung erlaubt die physische Vermischung nachhaltiger und konventioneller Rohstoffe, schreibt jedoch eine buchhalterische Trennung vor. Der nachhaltige Anteil wird bilanziell erfasst, und am Ende eines definierten Zeitraums darf nur so viel nachhaltiges Produkt verkauft werden, wie zuvor als nachhaltiger Input eingebracht wurde. Dieses Modell bildet die mittlere Stufe zwischen physischer Trennung und reinem Zertifikate-Handel. Es gilt als besonders praxistauglich, da bestehende Produktionsstrukturen unverändert genutzt werden können, während gleichzeitig Nachhaltigkeitsziele erfüllt werden. [3]
- Book & Claim (Zertifikate-Modell): Bei diesem Modell besteht keine physische oder bilanzielle Verbindung zwischen Rohstoff und Produkt. Stattdessen werden Nachhaltigkeitszertifikate unabhängig vom Materialfluss gehandelt. Dieses Modell ist am einfachsten umzusetzen, bietet aber die geringste Transparenz über die tatsächliche Herkunft der Materialien.
Die Massenbilanzierung befindet sich somit in der Mitte dieser Kette von Modellen: Sie kombiniert die ökologische Glaubwürdigkeit der physischen Modelle mit der wirtschaftlichen Flexibilität des Book-&-Claim-Systems. Gerade für komplexe Industrieprozesse, in denen Stoffströme untrennbar vermischt sind, stellt sie daher den realistischsten Kompromiss dar. [4]
Transparenz in Zahlen: Massenbilanzierung mit REDCert², ISCC EU & ISCC PLUS
Die drei Zertifizierungssysteme ISCC EU, ISCC PLUS und REDCert² gehören zu den wichtigsten internationalen Standards für die Rückverfolgbarkeit nachhaltiger Rohstoffe und Produkte. Obwohl sie ähnliche Prinzipien wie die Massenbilanzierung und die Chain-of-Custody-Nachweisführung verwenden, unterscheiden sie sich deutlich in Anwendungsbereich, regulatorischem Rahmen und Zielsetzung.
ISCC EU: ISCC EU ist ein von der EU anerkanntes System zur Umsetzung der Renewable Energy Directive II (RED II). Es zertifiziert Biomasse, Biokraftstoffe und Bioliquide und ist gesetzlich verpflichtend, wenn Unternehmen erneuerbare Energieträger im europäischen Markt in Verkehr bringen. Es verlangt u. a. den Nachweis von Treibhausgaseinsparungen und die Rückverfolgbarkeit bis zur Quelle. [4]
ISCC PLUS: ISCC PLUS ist die freiwillige Erweiterung von ISCC EU für Sektoren außerhalb der Energiewirtschaft, etwa Chemie, Verpackung, Lebensmittel und Kunststoffe. Es nutzt dieselben methodischen Grundlagen (z. B. Massenbilanzierung), verzichtet aber auf die regulatorischen Vorgaben der RED II. Dadurch ist es global einsetzbarund flexibel für verschiedene Rohstoffe, etwa biobasierte oder recycelte Materialien. [5]
REDCert²: REDCert² ist ein freiwilliges, branchenspezifisches System der chemischen Industrie, das nachhaltige Material- und Stoffströme zertifiziert. Es konzentriert sich auf die Substitution fossiler Rohstoffe durch nachhaltige oder recycelte Alternativen und basiert ebenfalls auf der Massenbilanzierung. Im Gegensatz zu ISCC EU sind keine verpflichtenden Treibhausgasberechnungen vorgeschrieben. [6]
Weitere Informationen zu den Zertifizierungssystemen finden Sie hier.
DFGE – Ihr Umsetzungspartner für Massenbilanzierung und andere Chain of Custody Systeme
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Quellen
[1] https://www.k-zeitung.de/was-ist-massenbilanzierung
[2] https://www.wacker.com/cms/de-de/products/insights/sustainability-biomass-balance.html
[5] https://www.iscc-system.org/wp-content/uploads/2024/03/ISCC-PLUS_v3.4.2.pdf








