Autorinnen: Dr. Susanne Pankov (DFGE), Maureen Habermann (DFGE), Eva Kleemann (DFGE), Elisabeth Voigt (DFGE), Johanna Anna Hansjürgens (adelphi), Alina Ulmer (adelphi)
Veröffentlichung: März 2023
Hintergrund
Im Januar 2023 trat die EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), in Kraft. Ab 2024 sind Unternehmen in der EU dazu verpflichtet, in ihren Lageberichten detailliert zu nichtfinanziellen Informationen in den Bereichen Umwelt, Soziales und Governance zu berichten. Dabei dienen die European Sustainability Reporting Standards (ESRS) als inhaltliche Leitlinie für die Berichterstattung. Steckbrief 1 bietet einen ersten Überblick über die Hintergründe und den Geltungsbereich der Richtlinie sowie die Anforderungen der ESRS. Eine der bedeutenden Neuerungen, die mit der CSRD einhergehen, ist die Einführung des Konzepts der „Double Materiality“, auf Deutsch „Doppelte Wesentlichkeit“ oder „Doppelte Materialität“ genannt.
Was dies bedeutet und welche Herausforderungen damit auf Unternehmen zukommen, wird in diesem Steckbrief erläutert.
Wesentlichkeit in der Nachhaltigkeitsberichterstattung
Wie auch bei der finanziellen Unternehmensberichterstattung sollten sich Nachhaltigkeitsberichte auf aussagekräftige Informationen konzentrieren, die für den Adressatenkreis relevant und bewertbar sind. Diese Eingrenzung wird als „Wesentlichkeit“ bezeichnet.
Aufgrund der Vielzahl an Einzelaspekten, die die Bereiche Umwelt, Soziales und Governance beinhalten, stehen Unternehmen vor der Herausforderung, wie sie ihre Berichterstattung auf die für sie wesentlichen Themen beschränken können.
Das Prinzip der Doppelten Wesentlichkeit
In der Nachhaltigkeitsberichterstattung wurden in den letzten Jahren unterschiedliche Wesentlichkeitskonzepte diskutiert und entwickelt. Dabei wurden die Themen oftmals nach der Intensität der Auswirkungen der Geschäftstätigkeit auf Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft sowie nach den Erwartungen und Interessen der Stakeholder priorisiert.
Das Prinzip der doppelten Wesentlichkeit stellt ein Umdenken in der Berichterstattungspraxis dar, da es Unternehmen dazu anleitet, die Wesentlichkeit von Nachhaltigkeitsaspekten immer aus zwei Perspektiven (Doppelte Wesentlichkeit) zu betrachten.
Dabei wird zwischen der Inside-Out Perspektive, auch Impact Materiality genannt, und der Outside-In Perspektive, auch Financial Materiality, unterschieden.
- Mithilfe der Inside-Out Perspektive ermitteln Unternehmen, welche tatsächlichen und potenziellen positiven und negativen Auswirkungen („impacts“) ihr unternehmerisches Handeln auf verschiedene Nachhaltigkeitsthemen hat.
- Die Outside-In-Perspektive („finanzielle Wesentlichkeit“) betrachtet Chancen und Risiken von Nachhaltigkeitsthemen für die finanzielle Lage eines Unternehmens und die Zukunftsfähigkeit des Geschäftsmodells.
Wenn Unternehmen definieren, welche Themen für sie wesentlich sind, finden dabei immer beide Perspektiven Berücksichtigung: Ein Thema gilt als wesentlich, wenn daraus entweder Risiken und Chancen für den Geschäftserfolg entstehen (Outside-In Perspektive) oder es aufgrund der Auswirkungen der Geschäftstätigkeit auf Umwelt und Menschen (Inside-Out-Perspektive) signifikant ist. Ein Thema ist somit auch berichterstattungspflichtig, wenn es nur aus der Sicht von einer der beiden Perspektiven als wesentlich eingestuft wird.
Erweist sich ein Thema unter diesen Voraussetzungen als wesentlich, muss das Unternehmen in Einklang mit dem jeweiligen themenspezifischen ESRS-Standard zu den dort vorgeschriebenen Inhalten berichten. Dies beinhaltet Angaben zu Strategie und Governance in Bezug auf das Thema, Informationen zu umgesetzten Maßnahmen sowie Ziele und Kennzahlen.
Exemplarische Anwendung der Doppelten Wesentlichkeit
Um die praktische Anwendung der doppelten Wesentlichkeit darzustellen, soll als Beispiel ein Unternehmen, das in der Öl- und Gasbranche tätig ist, herangezogen werden. Die Kerntätigkeit des Unternehmens besteht in der Förderung und dem Verkauf fossiler Brennstoffe, die erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben und zum Klimawandel beitragen.
Aus Sicht der finanziellen Wesentlichkeit (Outside-In Perspektive) kann sich beispielsweise das Thema Klimawandel auf die Fähigkeit des Unternehmens, kurz-, mittel- und langfristig Einnahmen und Rentabilität zu erzielen, auswirken. Aufgrund regulatorischer und rechtlicher Vorgaben zur Reduktion von Kohlenstoffemissionen können für das Unternehmen finanzielle Risiken entstehen, die mit Geldstrafen oder erhöhten Produktionskosten einhergehen.
Auf der anderen Seite können aus Sicht der Impact Materiality (Inside-Out Perspektive) die Nachhaltigkeitsauswirkungen des Unternehmens ein breites Themenspektrum betreffen. So kann die Geschäftstätigkeit des Unternehmens negative Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesellschaft haben, wie z.B. durch Treibhausgasemissionen, Biodiversitätsverlust und Vertreibung von lokalen Gemeinschaften in Abbaugebieten.
Wie wird ermittelt, welche Themen wesentlich sind?
Um zu ermitteln, welche Themen aus Sicht eines Unternehmens im Sinne der Doppelten Materialität wesentlich sind, hat das Unternehmen nach den Vorgaben der CSRD eine Wesentlichkeitsanalyse durchzuführen. Dabei erfordert der Prozess eine gute Vorbereitung, da die zur Umsetzung notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden müssen und die Unternehmensleitung einzubinden ist.
Zu Beginn der Analyse sollten sich Unternehmen die Frage stellen, welche Nachhaltigkeitsaspekte potenziell wesentlich sind, also welche Themen innerhalb der Wesentlichkeitsanalyse weiter bewertet werden sollen. Um bei der Aufstellung der Liste alle potenziell wesentlichen Themen abzudecken, ist ein Abgleich mit einschlägigen Standards und Rahmenwerken angeraten. Im Rahmen der CSRD-Berichtspflicht sind die thematischen ESRS-Standards Grundlage der Überprüfung. Diese bieten für die Erstellung der Liste mit potenziell wesentlichen Themen den Ausgangspunkt. Zusätzlich können branchenspezifische Standards, Nachhaltigkeitsratings und Sektor-Materialitätsprofile genutzt werden, um einzuschätzen, welche Themen typischerweise für ein Unternehmen einer bestimmten Branche wesentlich sind.
Bei der Themenauswahl sollte außerdem die Wertschöpfungskette beleuchtet werden. Negative und positive Auswirkungen sowie Risiken und Chancen können nicht nur in der direkten Geschäftstätigkeit, sondern auch in der Lieferkette oder in der Nutzungsphase eines Produktes auftreten. Hier lassen sich beispielsweise aus einschlägigen Studien Hotspots ermitteln. Mit der Systematisierung und Weiterentwicklung sollten Unternehmen diese Erkenntnisse durch eigenständige Risiko- und Impactanalysen untermauern.
Mittels einer weitergehenden Analyse des Umfeldes kann in der Folge erfasst werden, welche der zuvor ermittelten Themen im Sinne der Doppelten Wesentlichkeit priorisiert werden sollten. Eine Wesentlichkeitsanalyse sollte immer auch die Sicht der Anspruchsgruppen (auch Stakeholder genannt) eines Unternehmens miteinbeziehen.
Als Experten gelten Personen aus den Bereichen Wissenschaft, Medien, Gewerkschaft, Verbände, Zivilgesellschaft, Behörden sowie Beratungsunternehmen, Investoren und Anwälte des Unternehmens. Zu konsultierende Stakeholder sind beispielsweise Lieferanten, Geschäftspartner, Kunden, Mitarbeitende, Arbeitnehmervertreter, Aktionäre und Anwohner oder sonstige betroffene Gruppen.
Für die Integration der Experten- und Stakeholderperspektiven können beispielsweise Ableitungen aus öffentlichen Stellungnahmen, Online-Umfragen oder Interviews durchgeführt werden.
Im Anschluss an die Priorisierung der für das Unternehmen wesentlichen Themen muss eine Wesentlichkeitsschwelle für die Berichterstattung festgelegt werden. Alle Themen, die diese Schwelle überschreiten, sollten dann im Bericht in Einklang mit den ESRS Standards hervorgehoben und ausführlich behandelt werden.
Im Rahmen der CSRD ist auch Transparenz in Bezug auf die Methodik gefordert. Unternehmen müssen demnach berichten, auf welche Weise die Wesentlichkeitsanalyse nach der Doppelten Materialität durchgeführt wurde.
Es ist außerdem wichtig zu betonen, dass die Wesentlichkeitsanalyse nach der Doppelten Materialität ein kontinuierlicher Prozess ist und regelmäßig aktualisiert und überprüft werden sollte, um sicherzustellen, dass die Berichterstattung relevant und aussagekräftig bleibt.
Nutzen einer Wesentlichkeitsanalyse
Mit der Durchführung einer Wesentlichkeitsanalyse zur Themenpriorisierung bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung wird eine zentrale Anforderung der CSRD umgesetzt. Die Ermittlung der wesentlichen Themen bietet für Unternehmen außerdem weitere Vorteile:
- Die Wesentlichkeitsanalyse ermöglicht es Unternehmen, strategisch relevante Nachhaltigkeitsthemen zu identifizieren und im Nachhaltigkeitsmanagement auf diese zu konzentrieren. Dadurch können Unternehmen ihre Ressourcen effektiver einsetzen und ihre Nachhaltigkeitsleistung gezielter verbessern.
- Die Wesentlichkeitsanalyse beleuchtet zudem die Bedürfnisse und Erwartungen der Stakeholder. Indem Unternehmen die wesentlichen Themen identifizieren, die für ihre Stakeholder von Bedeutung sind, können sie deren Erwartungen besser erfüllen und das Vertrauen und die Loyalität der Stakeholder stärken. Eine Wesentlichkeitsanalyse kann Grundlage oder Teil eines regelmäßigen Stakeholderdialogs sein.
- Die Wesentlichkeitsanalyse ermöglicht es Unternehmen darüber hinaus, Risiken im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsthemen zu identifizieren und zu bewerten. Unternehmen können Maßnahmen ergreifen, um diese Risiken zu minimieren oder zu vermeiden und dadurch mögliche Schäden für das Unternehmen und die Umwelt zu reduzieren.
Anschließende Empfehlungen zur Doppelten Wesentlichkeit
Die Durchführung einer doppelten Wesentlichkeitsanalyse ist nicht trivial. Viele Unternehmen müssen zunächst lernen, die beiden Perspektiven der doppelten Wesentlichkeit zu verstehen und für ihr Unternehmen einzuschätzen.
Oftmals wird die Komplexität einer Wesentlichkeitsanalyse unterschätzt, wodurch zu wenig Zeit und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Eine weitere Herausforderung ist es, die Wesentlichkeit der Themen über die gesamte Wertschöpfungskette zu betrachten. Um fundierte Ergebnisse durch die Wesentlichkeitsanalyse zu erhalten, müssen verschiedenste Datenquellen konsultiert und Stakeholderperspektiven eingeholt werden.
Dennoch lohnt sich die Mühe nicht nur, um die Berichterstattungsanforderungen zu erfüllen. Der Prozess kann wichtige Einsichten zu wesentlichen Auswirkungen, Risiken und Chancen liefern, die zur Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie beitragen und Ausgangspunkt eines Stakeholderdialogs sein können. Gerne begleiten wir Sie bei diesem Prozess.
Weiterführende Informationen
DFGE: Doppelte Wesentlichkeit Informationsseite:
ESRS 1: Detaillierte Definitionen zur Doppelten Materialität
ESRS 2: Anforderungen an die Beschreibung der Wesentlichkeitsanalyse
Beispiel für Ergebnisse einer Wesentlichkeitsanalyse nach der Doppelten Materialität:
Telefonica Consolidated management report 2021
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